Liebe Mitbrüder im bischöflichen Dienst!
März 2009
Die Aufhebung der Exkommunikation für die vier von Erzbischof Lefebvre im
Jahr 1988 ohne Mandat des Heiligen Stuhls geweihten Bischöfe hat innerhalb
und außerhalb der katholischen Kirche aus vielfältigen Gründen zu einer
Auseinandersetzung von einer Heftigkeit geführt, wie wir sie seit langem
nicht mehr erlebt haben. Viele Bischöfe fühlten sich ratlos vor einem
Ereignis, das unerwartet gekommen und kaum positiv in die Fragen und
Aufgaben der Kirche von heute einzuordnen war.
Auch wenn viele Hirten und Gläubige den Versöhnungswillen des Papstes
grundsätzlich positiv zu werten bereit waren, so stand dagegen doch die
Frage nach der Angemessenheit einer solchen Gebärde angesichts der
wirklichen Dringlichkeiten gläubigen Lebens in unserer Zeit.
Verschiedene Gruppierungen hingegen beschuldigten den Papst ganz offen,
hinter das Konzil zurückgehen zu wollen: eine Lawine von Protesten setzte
sich in Bewegung, deren Bitterkeit Verletzungen sichtbar machte, die über
den Augenblick hinausreichen.
So fühle ich mich gedrängt, an Euch, liebe Mitbrüder, ein klärendes Wort zu
richten, das helfen soll, die Absichten zu verstehen, die mich und die
zuständigen Organe des Heiligen Stuhls bei diesem Schritt geleitet haben.
Ich hoffe, auf diese Weise zum Frieden in der Kirche beizutragen.
Eine für mich nicht vorhersehbare Panne bestand darin, daß die Aufhebung der
Exkommunikation überlagert wurde von dem Fall Williamson. Der leise Gestus
der Barmherzigkeit gegenüber vier gültig, aber nicht rechtmäßig geweihten
Bischöfen erschien plötzlich als etwas ganz anderes: als Absage an die
christlichjüdische Versöhnung, als Rücknahme dessen, was das Konzil in
dieser Sache zum Weg der Kirche erklärt hat.
Aus einer Einladung zur Versöhnung mit einer sich abspaltenden kirchlichen
Gruppe war auf diese Weise das Umgekehrte geworden: ein scheinbarer Rückweg
hinter alle Schritte der Versöhnung von Christen und Juden, die seit dem
Konzil gegangen wurden und die mitzugehen und weiterzubringen von Anfang an
ein Ziel meiner theologischen Arbeit gewesen war.
Dass diese Überlagerung zweier gegensätzlicher Vorgänge eingetreten ist und
den Frieden zwischen Christen und Juden wie auch den Frieden in der Kirche
für einen Augenblick gestört hat, kann ich nur zutiefst bedauern.
Ich höre, daß aufmerksames Verfolgen der im Internet zugänglichen
Nachrichten es ermöglicht hätte, rechtzeitig von dem Problem Kenntnis zu
erhalten. Ich lerne daraus, daß wir beim Heiligen Stuhl auf diese
Nachrichtenquelle in Zukunft aufmerksamer achten müssen.
Betrübt hat mich, daß auch Katholiken, die es eigentlich besser wissen
konnten, mit sprungbereiter Feindseligkeit auf mich einschlagen zu müssen
glaubten. Um so mehr danke ich den jüdischen Freunden, die geholfen haben,
das Mißverständnis schnell aus der Welt zu schaffen und die Atmosphäre der
Freundschaft und des Vertrauens wiederherzustellen, die wie zur Zeit von
Papst Johannes Paul II.

Rom 1998: Jubiläumswallfahrt zum 10-jährigen
Bestehen
- auch während der ganzen Zeit
meines Pontifikats bestanden hatte und gottlob weiter besteht.
Eine weitere Panne, die ich ehrlich bedaure, besteht darin, daß Grenze und
Reichweite der Maßnahme vom 21. 1. 2009 bei der Veröffentlichung des
Vorgangs nicht klar genug dargestellt worden sind. Die Exkommunikation
trifft Personen, nicht Institutionen.
Bischofsweihe ohne päpstlichen Auftrag bedeutet die Gefahr eines Schismas,
weil sie die Einheit des Bischofskollegiums mit dem Papst in Frage stellt.
Die Kirche muß deshalb mit der härtesten Strafe, der Exkommunikation,
reagieren, und zwar, um die so Bestraften zur Reue und in die Einheit
zurückzurufen.
20 Jahre nach den Weihen ist dieses Ziel leider noch immer nicht erreicht
worden. Die Rücknahme der Exkommunikation dient dem gleichen Ziel wie die
Strafe selbst: noch einmal die vier Bischöfe zur Rückkehr einzuladen.
Diese Geste war möglich, nachdem die Betroffenen ihre grundsätzliche
Anerkennung des Papstes und seiner Hirtengewalt ausgesprochen hatten, wenn
auch mit Vorbehalten, was den Gehorsam gegen seine Lehrautorität und gegen
die des Konzils betrifft.
Damit komme ich zur Unterscheidung von Person und Institution zurück. Die
Lösung der Exkommunikation war eine Maßnahme im Bereich der kirchlichen
Disziplin: Die Personen wurden von der Gewissenslast der schwersten
Kirchenstrafe befreit.
Von dieser disziplinären Ebene ist der doktrinelle Bereich zu
unterscheiden. Daß die Bruderschaft Mus' X. keine kanonische Stellung in
der Kirche hat, beruht nicht eigentlich auf disziplinären, sondern auf
doktrinellen Gründen. Solange die Bruderschaft keine kanonische Stellung in
der Kirche hat, solange üben auch ihre Amtsträger keine rechtmäßigen Ämter
in der Kirche aus.
Es ist also zu unterscheiden zwischen der die Personen als Personen
betreffenden disziplinären Ebene und der doktrinellen Ebene, bei der Amt und
Institution in Frage stehen. Um es noch einmal zu sagen: Solange die
doktrinellen Fragen nicht geklärt sind, hat die Bruderschaft keinen
kanonischen Status in der Kirche und solange üben ihre Amtsträger, auch wenn
sie von der Kirchenstrafe frei sind, keine Ämter rechtmäßig in der Kirche
aus.
Angesichts dieser Situation beabsichtige ich, die Päpstliche Kommission „Ecclesia
Dei", die seit 1988 für diejenigen Gemeinschaften und Personen zuständig
ist, die von der Bruderschaft Mus' X. oder ähnlichen Gruppierungen kommend
in die volle Gemeinschaft mit dem Papst zurückkehren wollen, in Zukunft mit
der Glaubenskongregation zu verbinden.
Damit soll deutlich werden, daß die jetzt zu behandelnden Probleme
wesentlich doktrineller Natur sind, vor allem die Annahme des II.
Vatikanischen Konzils und des nachkonziliaren Lehramts der Päpste betreffen.

Kardinal Ratzinger in Wigratzbad
Die kollegialen Organe, mit
denen die Kongregation die anfallenden Fragen bearbeitet (besonders die
regelmäßige Kardinalsversammlung an den Mittwochen und die ein- bis
zweijährige Vollversammlung), garantieren die Einbeziehung der Präfekten
verschiedener römischer Kongregationen und des weltweiten Episkopats in die
zu fällenden Entscheidungen.

Die Gnadenkapelle von Wigratzbad
Man kann die Lehrautorität der Kirche nicht im Jahr 1962 einfrieren - das
muß der Bruderschaft ganz klar sein.
Aber manchen von denen, die sich als große Verteidiger des Konzils
hervortun, muß auch in Erinnerung gerufen werden, daß das II. Vaticanum die
ganze Lehrgeschichte der Kirche in sich trägt. Wer ihm gehorsam sein will,
muß den Glauben der Jahrhunderte annehmen und darf nicht die Wurzeln
abschneiden, von denen der Baum lebt.
Ich hoffe, liebe Mitbrüder, daß damit die positive Bedeutung wie auch die
Grenze der Maßnahme vom 21. 1. 2009 geklärt ist. Aber nun bleibt die Frage:
War das notwendig? War das wirklich eine Priorität? Gibt es nicht sehr viel
Wichtigeres? Natürlich gibt es Wichtigeres und Vordringlicheres. Ich denke,
daß ich die Prioritäten des Pontifikats in meinen Reden zu dessen Anfang
deutlich gemacht habe. Das damals Gesagte bleibt unverändert meine
Leitlinie.
Die erste Priorität für den Petrusnachfolger hat der Herr im Abendmahlssaal
unmißverständlich fixiert: „Du aber stärke deine Brüder" (Lk 22, 32). Petrus
selber hat in seinem ersten Brief diese Priorität neu formuliert: „Seid
stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt,
die in euch ist" (1 Petr 3, 15).
In unserer Zeit, in der der Glaube in weiten Teilen der Welt zu verlöschen
droht wie eine Flamme, die keine Nahrung mehr findet, ist die allererste
Priorität, Gott gegenwärtig zu machen in dieser Welt und den Menschen den
Zugang zu Gott zu öffnen. Nicht zu irgendeinem Gott, sondern zu dem Gott,
der am Sinai gesprochen hat; zu dem Gott, dessen Gesicht wir in der Liebe
bis zum Ende (Joh 13, 1) im gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus
erkennen.
Das eigentliche Problem unserer Geschichtsstunde ist es, daß Gott aus dem
Horizont der Menschen verschwindet und daß mit dem Erlöschen des von Gott
kommenden Lichts Orientierungslosigkeit in die Menschheit hereinbricht,
deren zerstörerische Wirkungen wir immer mehr zu sehen bekommen.
Die Menschen zu Gott, dem in der Bibel sprechenden Gott zu führen, ist die
oberste und grundlegende Priorität der Kirche und des Petrusnachfolgers in
dieser Zeit.
Aus ihr ergibt sich dann von selbst, daß es uns um die Einheit der
Glaubenden gehen muß. Denn ihr Streit, ihr innerer Widerspruch, stellt die
Rede von Gott in Frage. Daher ist das Mühen um das gemeinsame
Glaubenszeugnis der Christen um die Ökumene - in der obersten Priorität mit
eingeschlossen.
Dazu kommt die Notwendigkeit, daß alle, die an Gott glauben, miteinander
den Frieden suchen, versuchen einander näher zu werden, um so in der
Unterschiedenheit ihres Gottesbildes doch gemeinsam auf die Quelle des
Lichts zuzugehen - der interreligiöse Dialog.
Wer Gott als Liebe bis ans Ende verkündigt, muß das Zeugnis der Liebe
geben: den Leidenden in Liebe zugewandt sein, Haß und Feindschaft abwehren
die soziale Dimension des christlichen Glaubens, von der ich in der
Enzyklika „Deus caritas est" gesprochen habe.
Wenn also das Ringen um den Glauben, um die Hoffnung und um die Liebe in der
Welt die wahre Priorität für die Kirche in dieser Stunde (und in
unterschiedlichen Formen immer) darstellt, so gehören doch auch die kleinen
und mittleren Versöhnungen mit dazu. Daß die leise Gebärde einer
hingehaltenen Hand zu einem großen Lärm und gerade so zum Gegenteil von
Versöhnung geworden ist, müssen wir zur Kenntnis nehmen.

Aber nun
frage ich doch: War und ist es wirklich verkehrt, auch hier dem Bruder
entgegenzugehen, „der etwas gegen dich hat" und Versöhnung zu versuchen
(vgl. Mt 5, 23f)? Muß nicht auch die zivile Gesellschaft versuchen,
Radikalisierungen zuvorzukommen, ihre möglichen Träger - wenn irgend möglich
- zurückzubinden in die großen gestaltenden Kräfte des gesellschaftlichen
Lebens, um Abkapselung und all ihre Folgen zu vermeiden?
Kann es ganz falsch sein, sich um die Lösung von Verkrampfungen und
Verengungen zu bemühen und dem Raum zu geben, was sich an Positivem findet
und sich ins Ganze einfügen läst? Ich habe selbst in den Jahren nach 1988
erlebt, wie sich durch die Heimkehr von vorher von Rom sich abtrennenden
Gemeinschaften dort das innere Klima verändert hat; wie die Heimkehr in die
große, weite und gemeinsame Kirche Einseitigkeiten überwand und
Verkrampfungen löste, so dass nun daraus positive Kräfte für das Ganze
wurden.
Kann uns eine Gemeinschaft ganz gleichgültig sein, in der es 491 Priester,
215 Seminaristen, 6 Seminare, 88 Schulen, 2 Universitäts-Institute, 117
Brüder und 164 Schwestern gibt? Sollen wir sie wirklich beruhigt von der
Kirche wegtreiben lassen?
Ich denke zum Beispiel an die 491 Priester. Das Geflecht ihrer Motivationen
können wir nicht kennen. Aber ich denke, daß sie sich nicht für das
Priestertum entschieden hätten, wenn nicht neben manchem Schiefen oder
Kranken die Liebe zu Christus da gewesen wäre und der Wille, ihn und mit ihm
den lebendigen Gott zu verkünden. Sollen wir sie einfach als Vertreter einer
radikalen Randgruppe aus der Suche nach Versöhnung und Einheit ausschalten?
Was wird dann werden?
Gewiß, wir haben seit langem und wieder beim gegebenen Anlaß viele Mißtöne
von Vertretern dieser Gemeinschaft gehört - Hochmut und Besserwisserei,
Fixierung in Einseitigkeiten hinein usw. Dabei muß ich der Wahrheit wegen
anfügen, daß ich auch eine Reihe bewegender Zeugnisse der Dankbarkeit
empfangen habe, in denen eine Öffnung der Herzen spürbar wurde.
Aber sollte die Großkirche nicht auch großmütig sein können im Wissen um den
langen Atem, den sie hat; im Wissen um die Verheißung, die ihr gegeben ist?
Sollten wir nicht wie rechte Erzieher manches Ungute auch überhören können
und ruhig aus der Enge herauszuführen uns mühen? Und müssen wir nicht
zugeben, daß auch aus kirchlichen Kreisen Mißtönendes gekommen ist?
Manchmal hat man den Eindruck, daß unsere Gesellschaft wenigstens eine
Gruppe benötigt, der gegenüber es keine Toleranz zu geben braucht; auf die
man ruhig mit Haß losgehen darf. Und wer sie anzurühren wagte - in diesem
Fall der Papst -, ging auch selber des Rechts auf Toleranz verlustig und
durfte ohne Scheu und Zurückhaltung ebenfalls mit Haß bedacht werden.
Liebe Mitbrüder, in den Tagen, in denen mir in den Sinn kam, diesen Brief zu
schreiben, ergab es sich zufällig, daß ich im Priesterseminar zu Rom die
Stelle aus Gal 5, 13 - 15 auslegen und kommentieren mußte. Ich war
überrascht, wie direkt sie von der Gegenwart dieser Stunde redet: „Nehmt die
Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!
Das ganze Gesetz wird in dem einen Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst! Wenn ihr einander beißt und zerreißt, dann
gebt acht, daß ihr euch nicht gegenseitig umbringt." Ich war immer geneigt,
diesen Satz als eine der rhetorischen Übertreibungen anzusehen, die es
gelegentlich beim heiligen Paulus gibt.
In gewisser Hinsicht mag er dies auch sein. Aber leider gibt es das „Beißen
und Zerreißen" auch heute in der Kirche als Ausdruck einer schlecht
verstandenen Freiheit. Ist es verwunderlich, daß wir auch nicht besser sind
als die Galater? Daß uns mindestens die gleichen Versuchungen bedrohen? Daß
wir den rechten Gebrauch der Freiheit immer neu lernen müssen?
Und daß wir immer neu die oberste Priorität lernen müssen: die Liebe? An dem
Tag, an dem ich darüber im Priesterseminar zu reden hatte, wurde in Rom das
Fest der Madonna della Fiducia - unserer Lieben Frau vom Vertrauen -
begangen.
In der Tat - Maria lehrt uns das Vertrauen. Sie führt uns zum Sohn, dem wir
alle vertrauen dürfen. Er wird uns leiten - auch in turbulenten Zeiten. So
möchte ich am Schluß all den vielen Bischöfen von Herzen danken, die mir in
dieser Zeit bewegende Zeichen des Vertrauens und der Zuneigung, vor allem
aber ihr Gebet geschenkt haben.
Dieser Dank gilt auch allen Gläubigen, die mir in dieser Zeit ihre
unveränderte Treue zum Nachfolger des heiligen Petrus bezeugt haben. Der
Herr behüte uns alle und führe uns auf den Weg des Friedens. Das ist ein
Wunsch, der spontan aus meinem Herzen aufsteigt, gerade jetzt zu Beginn der
Fastenzeit, einer liturgischen Zeit, die der inneren Läuterung besonders
förderlich ist und die uns alle einlädt, mit neuer Hoffnung auf das
leuchtende Ziel des Osterfestes zu schauen.
Mit einem besonderen Apostolischen Segen verbleibe ich
im Herrn
Euer
Benedikt PP. XVI.
Aus dem
Vatikan, am 10. März 2009
